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Antje Vollmer und Norbert Blüm diskutierten Mechanismen sozialer Ungleichheit

Kontroverse um Betreuungsgeld - Neuer Sonderforschungsbereich der Universität Bielefeld mit Festvortrag und Podiumsdiskussion eröffnet

Quelle: uni.aktuell
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„Wie viel Ungleichheit benötigen wir? Wie viel Ungleichheit vertragen wir?“, so lautete der Titel der öffentlichen Podiumsdiskussion anlässlich der internationalen Auftaktkonferenz des neuen Sonderforschungsbereichs (SFB) 882 „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“ an der Universität Bielefeld. Als Diskutanten hatten u.a. die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen), und der langjährige Bundesminister für Arbeit und Soziales, Norbert Blüm (CDU), auf dem Podium Platz genommen. Viel Einigkeit beim neuen Armutsbericht, Kontroverse um das Betreuungsgeld.

„Wie viel Ungleichheit benötigen wir? Wie viel Ungleichheit vertragen wir?“, so lautete der Titel der öffentlichen Podiumsdiskussion anlässlich der internationalen Auftaktkonferenz des neuen Sonderforschungsbereichs (SFB) 882 „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“ an der Universität Bielefeld. Als Diskutanten hatten u.a. die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen), und der langjährige Bundesminister für Arbeit und Soziales, Norbert Blüm (CDU), auf dem Podium Platz genommen. Viel Einigkeit beim neuen Armutsbericht, Kontroverse um das Betreuungsgeld.

Auf dem Podium diskutierten zur Eröffnung des SFB (v.l.): Prof. Dr. Ulrike Detmers, Dr. Norbert Blüm, Moderatorin Petra Pinzler, Dr. Dr. h.c. Stefan Hradil und Dr. Antje Vollmer.

Menschen unterscheiden sich neben physischen Merkmalen wie Alter oder Geschlecht durch ihre Nationalität und Ethnizität, durch Kultur, ihre Einstellungen und Fähigkeiten sowie ihren Beruf“, erklärte SFB Sprecher Professor Dr.  Martin Diewald eingangs beim Festakt in der Ravensberger Spinnerei. „Wir werden interdisziplinär untersuchen, welche Mechanismen dafür verantwortlich sind, dass Menschen aufgrund ihrer bloßen Verschiedenartigkeit in unserer Gesellschaft unterschiedlich behandelt werden und soziale Ungleichheiten entstehen.“

Soziologe Kaufmann: Gleichheitsidee und Menschenrechte historisch ohne Christentum nicht denkbar

Der bekannte Bielefelder Soziologe Professor Franz-Xaver Kaufmann zeichnete in seinem Festvortrag die Entstehung und Legitimation sozialer Ungleichheit von der Antike über die Französische Revolution bis zur Gegenwart nach und unterstrich, dass die „Idee der fundamentalen Gleichheit aller Menschen“ zugleich die Voraussetzung aller Diskussion über Ungleichheit sei. „Der universalistische Gedanke der Gleichheit, wie er sich schließlich in der Idee der Menschenrechte niederschlug, wäre ohne den Universalismus des Christentums nicht denkbar geworden“. Als herausragendes Beispiel nannte er für seine These die berühmte Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, die festhalte, dass alle Menschen von einem Schöpfergott als „gleich“ geschaffen worden sind. Letztlich sei, so Kaufmann weiter, auch die moderne Sozialwissenschaft im Zuge dieses weiter fortgeführten, aufklärerischen Gleichheitsgedanken entstanden und reflektiere die gesellschaftlichen Verhältnisse in der „Perspektive von Freiheit, Gleichheit und gelegentlich auch Brüderlichkeit und Solidarität“.

Moderne Wohlfahrtsstaaten im Spannungsfeld von Freiheit und Gleichheit

Moderne Wohlfahrtsstaaten wie die Bundesrepublik bewegten sich stets im Spannungsfeld von „Freiheit“ und Gleichheit“ und stellten damit auch die Frage nach der Chancenverteilung, wobei Kaufmann angesichts der aktuellen politischen Lage prognostizierte, dass sich „seit der Liberalisierung der Weltfinanzmärkte in der Bundesrepublik die Chancenstruktur wiederum eher im Sinne größerer Ungleichheit“ verfestige. Diesen Diskussionsfaden nahm im Anschluss auch das mit der ehemaligen Vizepräsidentin des Bundestags, Antje Vollmer, und dem langjährigen Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, sowie dem Mainzer Soziologieprofessor Stefan Hradil und der Gütersloher Unternehmerin und Wirtschaftsprofessorin Ulrike Detmers prominent besetzte Podium auf. Moderiert wurde von Petra Pinzler (Die ZEIT).

Kontroverse um Betreuungsgeld und Armutsbericht

Leidenschaftlich wurde besonders die aktuelle Diskussion um das Betreuungsgeld von den Diskutanten verfolgt. Blüm wies darauf hin, dass es unbestritten sei, dass Kinder gerade in den ersten Lebensjahren eine enge Beziehung zu den Eltern benötigten. Politischen Konzepten, welche „mehr Staat“ in der Frühphase der kindlichen Erziehung reklamierten, erteilte der ehemalige Arbeits- und Sozialminister eine deutliche Absage. Dem entgegnete wiederum Soziologieprofessor Stefan Hradil, dass Studien mit Blick auf Nachbarländer wie Frankreich gezeigt hätten, dass bspw. die Einrichtung der „Ècole maternelle“, einer Vorschule für Kinder von zwei bis sechs Jahren, keinerlei negative und langfristige Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung zeigten.
Einig waren sich die Podiumsteilnehmer bei der Bewertung des jüngsten Armutsberichts. „Ich habe keine Sehnsucht nach Sozialismus. Aber zu denken: Jetzt ist nur noch der Kapitalismus an der Reihe!, das ist die falsche Schlussfolgerung“, so Norbert Blüm.
Auf eine ganz andere Ursache sozialer Ungleichheit lenkte die ehemalige Vizepräsidentin des Bundestages, Antje Vollmer, die Aufmerksamkeit des Plenums. Gerade ältere Menschen würden durch die zunehmende Technisierung und Virtualisierung der Gesellschaft in allen Lebensbereichen abgehängt und ausgeschlossen: „Viele ältere Menschen können mit den neuen Medien nicht umgehen, haben bspw. keinen Zugang zu online-Formularen bei Behörden. Das ist dann ein verschämtes Ungleichsein“.

Politik muss sich um die Herstellung von Chancengleichheit bemühen

Konsens bestand bei den Podiumsteilnehmern in der Feststellung, dass insbesondere die zunehmende Chancenungleichheit für eine soziale Schieflage  sorge. Besonders der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Leistung würde in der Gegenwart zunehmend ausgehöhlt: „Früher galt die Regel, dass Eigentum das Ergebnis von Arbeit und Leistung ist“, so Soziologe Hradil. Dem pflichtete auch Norbert Blüm bei: „Wenn ein Manager das Tausendfache einer Putzfrau verdient und die Putzfrau dann immer noch staatliche Transferleistungen beziehen muss, um zu überleben, dann kann da etwas überhaupt nicht stimmen!“

Sonderforschungsbereich 882 kompakt:

Wie es kommt und welche Mechanismen dafür verantwortlich sind, dass die Menschen aufgrund ihrer bloßen Verschiedenartigkeit in unserer Gesellschaft unterschiedlich behandelt werden und soziale Ungleichheiten entstehen, untersuchen im Sonderforschungsbereich (SFB) 882 „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“ mehr als 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Universität Bielefeld in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und der Universität Nürnberg-Erlangen in einer ersten Förderphase von vier Jahren. Gefördert wird der neue SFB durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Erforscht werden so unterschiedliche Bereiche wie Arbeitsmarkt, Bildung, Familie oder Migration.

 

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